…findet der Bestseller-Autor Davis Mitchell das Etablieren von Corporate Cultures.
Ein Gespräch über Wurzeln, Werte und Kulturen
Elisabeth Göhring/David Mitchell
In „Der Wolken-Atlas“ entwirft David Mitchell das Szenario einer „Konzernokratie“, das die extreme Fortführung und auch das Ende unserer derzeitigen Ordnung skizziert: Die Menschen werden je nach Herkunft und Leistungspotenz in Konsumentenklassen mit unterschiedlichen Privilegien aufgeteilt. Die Macht wird von den Führern der Konzerne ausgeübt, die künstliche Städte erbauen ließen, zu denen nur die oberen und mittleren „Konsumentenklassen“ Zutritt haben.
Den Großteil der einfachen Arbeiten erledigen dort künstliche Sklaven, denen jeder menschliche Wert abgesprochen wird. Die breite internationale Unterschicht drängt sich auf verseuchter Erde um die Konsumzentren.
Beeindruckt von den Skizzen dieses und anderer Szenarios fand folgendes Gespräch im September 2013 in West-Cork/Irland statt.
EG: Wie würdest Du diesen Satz beenden: „Gier und Machthunger werden immer stärker sein als —–.“?
DM: Nachhaltigkeit und Mäßigung.
Um echte Nachhaltigkeit zu schaffen, muss aber die Verletzbarkeit unserer Welt erst wieder neu erspürt werden.
Unser Paradigma von Nachhaltigkeit ist beschränkt.
Die Komplexität des Themas behindert den Blick auf das Ganze.
Hier in der Gegend leben zum Beispiel „Traveler“, wie man in Irland die Zigeuner politisch korrekt bezeichnet.
Sie verweigern sich der Müllentsorgung, weshalb viele Leute sie als Umweltverschmutzer beschimpfen. Plastikmüll in die Landschaft zu werfen, bedeutet nachhaltigen Schaden.
Wenn ich aber beobachte, wie diese Menschen leben, stelle ich fest, dass sie wesentlich weniger verbrauchen als ich: Sie nutzen zum Beispiel einen Pferdewagen, um zum Supermarkt zu fahren, während ich das Auto nehme. Und sie leben auf so engem Raum mit so wenig Komfort, dass ich mich wirklich fragen muss, wer denn hier die Umweltverschmutzer sind.
Außerdem hat ihre Lebensweise kein Plastik hervorgebracht. Das war unsere.
Was ist hier nachhaltig und was maßvoll?
EG: Welchen Gemeinschaften gehörst Du an?
DM: Ich gehöre zu meiner neuen Familie – meiner Frau und meinen Kindern -, meinem Dorf und den Nachbarn, zu der Gemeinschaft der Zugezogenen von West-Cork.
Wenn ich unterwegs bin, bin ich Brite. In den USA West-Europäer. Außerdem bin ich Schriftsteller.
Die Stärke der Zugehörigkeit ist abhängig vom Kontext, also fließend.
EG: Was macht das „Zu-etwas-gehören“ aus?
DM: Wenn man auf Gegensätzliches trifft, wird man sich seiner eigenen Zugehörigkeit bewusst. Es gibt die genetische Zugehörigkeit und die durch die Sozialisation geformte. Erziehung prägt. Erfolg und Misserfolg formen.
EG: Wie wichtig ist Geld?
DM: Man kann Glück nicht kaufen. Aber Geld kann das Unglück der Armut beseitigen.
EG: Gibt es aus Deiner Sicht ein Entkommen aus der Spirale der „economy of scale“?
DM: Nein. Es gibt keinen Ausweg. Unsere Zivilisation wird untergehen. Mit dem Ende des Erdöls wird eine schnelle und schmerzhafte Transformation stattfinden. Der Kollaps ist nicht gleichzusetzen mit der Annullierung der menschlichen Gesellschaft. Er wird aber neue Paradigmen ermöglichen. Sie werden zwar keine Utopien aber auch keine Dystopien realisieren.
Wie auch immer, der einzige Weg aus unserer Planeten-verspeisenden globalen Gesellschaftsform ist, dass diese Gesellschaftsform sich selbst frisst. Ich befürchte, es wird schlimm werden, aber vielleicht kommt danach etwas Besseres.
Im Moment sind wir als Zivilisation absolut hoffnungslos Öl-abhängig. So sehr, dass wir uns andauernd alle möglichen Lügen und Ausreden ausdenken, es wäre nicht so. Wir sind Öl-Junkies und tun alles dafür, mit unserer Sucht möglichst so zu leben, dass es so aussieht, als wären wir freie Individuen. Aber wir sind Abhängige.
EG: Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die in dieser Welt funktioniert?
DM: Bescheidenheit wird nötig sein. Die Umwelt wird uns „Lösungen“ aufdrängen, die wir wahrscheinlich nicht mögen werden.
Das was uns als Spezies erfolgreich macht, ist auch das, was uns den Kollaps herbeiführen wird: der Appetit auf mehr.
Wir Menschen sind diesem Appetit nicht einfach ausgeliefert. Wir haben die Möglichkeit, uns eine Diät zu verordnen und diese als zivilisatorische Spirale zu entwickeln.
EG: Ganz konkret?
DM: Mehr Lokalität. Niedrigerer Energieverbrauch. Hoher Level an Technologie und Medizin. In unserem Bewusstsein werden die Interessen unserer Enkel sein.
Mehr Eichen statt „Sitka Spruce“. (Anm. der Red.: Sitka Spruce = schnell wachsender Nadelbaum) Technologie und kreative Ingenieursleistungen werden eine große Rolle spielen. Ich will keine agrikulturelle mittelalterliche Vergangenheit romantisieren. Nein. Antibiotika sind eine großartige Erfindung! Syphilis ist furchtbar.
EG: Wie wichtig sind ethnische oder historische Wurzeln?
DM: Die ethnischen Differenzen sind wichtig – aber fiktional.
Nationale Historie wird von nationalen Instanzen geprägt: durch Historiker, die Medien und uns. Es entsteht ein Kreislauf des Erzählens. Die Geschichte ist im Fluss.
Wichtig ist ein Bekenntnis zu den Fehlern der Vergangenheit. Ich habe größten Respekt vor der deutschen Erinnerungskultur, die weltweit vorbildlich ist: dass in der Mitte der Hauptstadt dem Holocaust gedacht wird!
Deutsche haben schwere Schuld auf sich geladen. Aber du nicht.
EG: Was ist „gut“?
DM: Kurz und frei nach Kant: „Behandle andere so, wie Du gerne behandelt werden willst“. Kenne dein Gewissen und höre auf es.
EG: Kann ein Unternehmen „gut“ sein?
DM: Es kann Gutes tun. Es kann Schlechtes tun. Aber ein Unternehmen ist nur eine metaphorische Entität.
Der Appetit der Unternehmen ist bedrohlich, so wie unser aller Appetit gefährlich ist.
Ein Unternehmen auf dem Höhepunkt seiner Macht ist eine Gefahr für die Demokratie.
EG: Wie viel Veränderungspotential in Bezug auf systemischen Organisationen traust Du den individuellen moralisch gesteuerten Entscheidungen zu?
DM: Die Individuen formen und beeinflussen die Organisation. Es passiert doch immer wieder, dass Menschen aus einer Organisation oder auch von außerhalb tatsächlich etwas verändern.
Politischer Aktivismus ist aber der eigentliche Weg, um Organisationen zu verändern. Organisationen werden nicht aufgrund von geäußerten Bedenken Einzelner verändert, aber sehr wohl durch den Massen-Druck in öffentlichen Netzwerken.
EG: Kann eine konstruierte Unternehmenskultur mehr sein als eine leere Hülle? Und wenn ja, was bewirkt das Arbeiten für einen Konzern in einem definierten kulturellen Kontext an einem Menschen?
DM: Ja, eine konstruierte Unternehmenskultur ist mehr als eine leere Hülle. Aber es ist eine gefährliche Angelegenheit, weil es die Leute verrückt macht. Zum Beispiel habe ich erlebt, wie ein sehr erfolgreiches Internetunternehmen die Leute sogar auf der Toilette zu mehr Kreativ-Leistung ermuntert hat. Die Mitarbeiter haben also die Wahl, sich entweder in die Ideologie zu fügen und damit verrückt zu werden oder lediglich bis zum Feierabend zu überleben.
Eine konstruierte Unternehmenskultur ist gefährlich, weil sie lediglich die positiven Aspekte betont und die negativen verheimlicht. Das ist ein bisschen wie Gehirnwäsche.
EG: Vielen Dank für das Gespräch
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Irland, Sept.2013