Zur Organisationskultur von Rockerclubs
Das Prinzip der Wahlverwandtschaftung: Über das Entschlüsseln expressiver Merkmale paart der soziale Sinn „(…) die Dinge und Menschen, die zueinander passen, die aufeinander abgestimmt sind, und macht sie einander verwandt“ (Bourdieu 1987: 374).
von Christian J. Schmid
Die Entwicklung der Rockerclubs ist eine organisationale Erfolgsgeschichte. Seit ihren Anfängen müssen sie sich staatlicher Interventions- und Abschaffungsversuche erwehren oder in Auseinandersetzungen mit Rivalen sowie internen Konflikten bewähren. Nicht zuletzt unter Zuhilfenahme bürokratischer Organisationsweisen, aber auch zunehmend professionalisierter Außendarstellung (z.B. Uniformierung, Image-Kampagnen, Sicherung von Markenrechten) gelang ihnen trotzdem eine beispiellose Expansion. Die ‚Big Three‘, Bandidos, Hells Angels und Outlaws MC (Motorcycle Club) führen in ihrem globalen Franchise-System mittlerweile je über 200 lokale Niederlassungen (sog. Chapter oder Charter).
Für das harmonische Funktionieren eines Rockerclubs ist vor allem die stufenweise Mitglieder-Selektion sehr entscheidend. Die Devise hierbei: Rocker wird man nicht, als Rocker ist/wird man auserwählt! Zukünftige Mitglieder geraten zunächst über persönliche Kontakte zu Club-Mitgliedern und deren Empfehlungen in das nähere Umfeld der Rockergruppierungen. Es werden gemeinsame Freizeitinteressen, Leidenschaften, Vorlieben und Weltanschauungen geteilt. Diese sogenannten Supporter oder Hangarounds dürfen an ausgewählten Club-Veranstaltungen teilnehmen, welche sie auch tatkräftig mitgestalten. Für eine Vollmitgliedschaft muss noch eine mehrmonatige, aufopferungsvolle Probezeit (sog. Prospect-Phase) absolviert werden, an deren Ende alle Clubmitglieder darüber abstimmen, ob ein Anwärter ‚reibungslos‘ in die bestehende Gemeinschaft passt. Letzterer darf sich erst danach durch das Tragen der (nicht nur) markenrechtlich geschützten Club-Insignien als echter ‚Member‘ ausweisen und besitzt uneingeschränktes Mitsprache- und Teilnahmerecht.
Um die Organisationsweisen der Rocker-Subkultur ‚organisationskulturell‘ erschöpfend zu analysieren, müssen folgende Grundfragen beantwortet werden:
(Mitgliederhabitus) Wer organisiert sich? Die exklusiv männlichen Mitglieder rekrutieren sich mehrheitlich aus unterprivilegierten (Fach-)arbeiter- oder Angestelltenhaushalten. Die jüngste Kohorte der Rocker hat oft zusätzlich einen stigmatisierten Migrationshintergrund. Die Moralitätsvorstellungen, Lebensentwürfe und Handlungspraxen dieser Leute sind schon vor dem Club-Eintritt von einer ausgeprägten Underdog-Mentalität, antiautoritären Gesinnung, Fatalismus, Hedonismus sowie einer sozialdarwinistischen Leistungs-, Kampf- und Siegermentalität geprägt. Gerade dieser an-sozialisierte, deviante Habitus verleitet sie dazu bzw. ermöglicht es ihnen überhaupt erst, eine Mitgliedschaft in einem Rocker- Club (erfolgversprechend) anzustreben.
(Organisationsweisen) Wie wird organisiert? Rockerclubs haben Satzungen mit Verhaltensvorschriften und Bestimmungen ihrer Aufbauorganisation, Amtsprivilegien, Aufgabenteilung sowie Entscheidungsfindung. Die hierarchische Formalorganisation dieser Gruppierungen ist eine trügerisch vereinfachende Fassade ihres Innenlebens, da Führungsansprüche mit der Ideologie von ‚Gleichheit & Brüderlichkeit‘ vermittelt werden müssen. Die obersten Club-Repräsentanten (Offiziere) werden meistens jährlich im Modus einer demokratischen Mehrheitswahl auserkoren. In regelmäßig stattfindenden oder aufgrund akuter Ausnahmesituationen einberufenen Club-Sitzungen darf und soll sich jedes Mitglied äußern und mit abstimmen: One man, one vote!
(Organisationsinhalte) Was wird organisiert? Rockerclubs sind gesinnungsethische Vergemeinschaftungen, welche primär ihre geteilten Interessen für ‚Motorradfahren & Bruderschaft‘ vereinen. Für ein funktionierendes Club-Leben mit den obligatorischen Feierlichkeiten, einem eigenen Treffpunkt, gemeinsamen Ausfahrten (sog. Runs), müssen auch monatliche Beiträge eingefordert, Merchandising-Artikel verkauft oder auch Musik- und Tattoo-Events organisiert werden. Für rechtliche Streitigkeiten mit den Behörden oder zur Unterstützung inhaftierter Mitglieder müssen Anwälte engagiert, Mitgliederfamilien finanziell unterstützt und bei eskalierenden Fehden mit anderen Clubs ‚(para-)militärische‘ Maßnahmen und Schutzvorkehrungen koordiniert werden.
Nur über das Passungsverhältnis von Mitgliederhabitus, Organisationsweisen und Organisationsinhalten erschließt sich dann im Erfolgsfall einer gelungenen Wahlverwandtschaftung, warum in diesen Clubs so etwas wie eine ‚starke‘ oder ‚authentische‘ Organisationskultur vorherrscht. Im Jargon von Management-Praktikern formuliert: Das ‚organisationale Commitment‘ oder auch die ‚corporate/ brand identity‘ ist dann außerordentlich hoch ausgeprägt.
Literatur:
Schmid, Christian C.J. (2015). Ethnographische Gameness. Reflexionen zu extra-methodologischen Aspekten der Feldarbeit im Rockermilieu. In R. Hitzler & M. Gothe (Hrsg.): Ethnographische Erkundungen (S. 273–294). Wiesbaden: Springer Verlag.
Ahlsdorf, M. (2014). Alles über Rocker. Mannheim: Huber Verlag Mannheim.
Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Franzpötter, R. (1997). Organisationskultur - Begriffsverständnis und Analyse aus interpretativ-soziologischer Sicht. Baden-Baden: Nomos Verlag.
Schmid, C.J. (2012). Rockerclubs. Eine post-traditionale Vergemeinschaftungsform unter den Bedingungen der Organisationsgesellschaft. In P. Eisewicht, T. Grenz, & M. Pfadenhauer (Hrsg.), Techniken der Zugehörigkeit (S. 213–237). Karlsruhe: KIT Scientific Publishing. [http://digbib.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/1000028907]
Christian J. Schmid vom Lehrstuhl für Organisationsforschung, Weiterbildungs- & Sozialmanagement der Technischen Universität Dortmund erforscht als Organisationssoziologe das Verhältnis von Gesellschaft, Organisation und Individuum. Es geht ihm um die Beobachtung und Beschreibung von organisational gerahmten Interaktionen und die Wirkweisen- und Wirkmächtigkeit auf die Arbeitserledigung sowie sozial-psychologischen Konsequenzen unterschiedlicher organisationaler Governance-Regimes auf die Organisationsmitglieder. Bisherige Untersuchungsfelder waren Hochschulen und Motorcycle-Clubs. Methodisch arbeiter er sowohl ethnographisch (teilnehmende Beobachtungen und Interviews) wie auch mit statistischen Analysen von Befragungs- und Organisationsdaten.