Das Phänomen „Szene“
von Ronald Hitzler und Arne Niederbacher
Das Leben in unserer Gegenwartsgesellschaft ist typischerweise hochgradig individualisiert und optionalisiert. Subjektivierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse, die sowohl in ökonomischen wie auch in politischen und kulturellen Zusammenhängen zu beobachten sind, lösen nicht nur die bisher dominierenden Klassen- und Schichtstrukturen zunehmend auf, und sie transformieren auch die herkömmlichen Gesellungsformen (Gemeinschaften wie Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinde etc., Assoziationen wie Vereine, Verbände, Parteien etc.).
Gleichwohl münden die mannigfaltigen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse, die wir alle - teils sehr intensiv, teils eher beiläufig - erfahren, entgegen mancherlei kulturpessimistischen Prognosen, allem Anschein nach nicht in Strukturlosigkeit, sondern führen eher zu (mitunter fundamentalen) Um-Strukturierungen des sozialen Lebens. Denn auch und gerade unter diesen Modernisierungsbedingungen nehmen die Akteure im für sie unterkomplex geordneten sozialen Raum Kontakte auf, suchen Anschlüsse, gehen Beziehungen ein, schließen Freundschaften, finden sich zurecht, gewöhnen sich – und zwar mehr oder weniger an alles, außer daran, atomisiert, solitär, schlicht: einsam, insbesondere mental und emotional einsam zu sein.
Die Vergemeinschaftungsangebote herkömmlicher 'Agenturen' der primären und sekundären Sozialisationen werden dem – insbesondere bei Jugendlichen und mental juvenilen Menschen – steigenden Bedarf nach sozialer Geborgenheit jedoch immer weniger gerecht. Infolgedessen entwickeln, verstetigen und vermehren sich neue bzw. neuartige Gesellungsformen, deren wesentlichstes Kennzeichen darin besteht, dass sie nicht mit den Verbindlichkeitsansprüchen herkömmlicher Gesellungsgebilde einhergehen, welche üblicherweise aus dem Rekurs auf (wie auch immer geartete) Traditionen und auf ähnliche soziale Lagen resultieren, sondern dass sie auf der Verführung hochgradig individualitätsbedachter Einzelner zur habituellen, intellektuellen, affektuellen und vor allem ästhetischen Gesinnungsgenossenschaft basieren.
Als prototypisch für derartige neue Gesellungsformen angesehen werden kann nun das Phänomen der 'Szenen'. Szenen weisen einen signifikant geringen Verbindlichkeitsgrad und Verpflichtungscharakter auf, sind nicht prinzipiell selektiv und exkludierend strukturiert und auf exklusive Teilhabe hin angelegt und fungieren wesentlich als thematisch fokussierte vergemeinschaftende Erlebnis- und Selbststilisierungsräume der jeweiligen Szenegänger. Gleichwohl erweisen Szenen sich mehr und mehr als jene Gesellungsgebilde, die die Entwicklung von Werthaltungen, Entscheidungskompetenzen, Verhaltensweisen, Deutungsmustern oder gar von ganzen 'Sinnwelten' bei individualisierten Akteuren beeinflussen. Von Subkulturen unterscheiden sich Szenen somit wesentlich durch ihre Diffusität im Hinblick auf Inklusion und Exklusion und durch ihren geringen Bezug auf vorgängige sozial-biographische Umstände.
In Szenen suchen die individualisierten Akteure das, was sie in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Gemeinde, in Kirchen, Verbänden oder Vereinen immer seltener und was sie auch in ihren Familien und Verwandtschaften, und immer öfter noch nicht einmal mehr in ihren Intim-Partnern finden: Verbündete für ihre Interessen, Kumpane für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften, kurz gesagt: Gesinnungsfreunde und -genossen. Denn die Chancen, in Szenen Gleichgesinnte zu finden, sind signifikant hoch, weil Szenen thematisch fokussiert sind: Jede Szene hat eine zentrale Thematik, auf die hin die Aktivitäten der Szenegänger ausgerichtet sind. Diese Thematik kann z.B. ein bestimmter Musikstil sein, eine spezifische erotische Neigung, eine Sportart, eine Spielbegeisterung, eine sonstige Freizeitaktivität, eine politische Idee, eine bestimmte Weltanschauung und auch spezielle Konsumgegenstände.
Szenegänger teilen das Interesse an der jeweiligen Szene-Thematik. Sie teilen auch typische Einstellungen und entsprechende Handlungs- und Umgangsweisen. Um diese herum versammeln sich und mit diesen überschneiden sich andere thematische Interessen. Dergestalt finden vielfältige Kommunikationen und Aktionen statt: innerhalb der Szene, über die (diffusen) Ränder der Szene hinaus und auch außerhalb der Szene. Die in Szenen vorfindlichen Verhaltensangebote haben unterschiedliche 'existentielle' Reichweiten: In manchen gehört es zum Ethos des Szenegängers, seine Zugehörigkeit in allen Lebenslagen und Situationen habituell anzuzeigen, in anderen ist der 'Verhaltenskodex' des Szenegängers mehr oder weniger auf die raumzeitliche Ausdehnung der Teilnahme am Szenegeschehen selber beschränkt. Gemeinsam ist allen szeneförmigen Gebilden aber, dass sie kaum generalisierbare Deutungsgewissheiten und Handlungsrezepte vermitteln.
Da Szenen – im Gegensatz zu Subkulturen – allenfalls bedingt mit kollektiv auferlegten Lebensumständen korrelieren, ist ihre Existenz gebunden nicht nur an die ständige kommunikative Vergewisserung, sondern vielmehr an die ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen seitens der Szenegänger: Im Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale inszenieren diese ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren dadurch tatsächlich zugleich, sozusagen 'beiläufig', die Szene. Vor allem in diesem Sinne lässt sich eine Szene mithin als Netzwerk von Akteuren definiereren, die bestimmte materiale und mentale Formen der kollektiven Selbst-Stilisierung teilen und diese Gemeinsamkeiten kommunikativ stabilisieren, modifizieren oder transformieren.
Verweise:
Hitzler, Ronald/Niederbacher, Arne (2010): Leben in Szenen. Wiesbaden: VS
Jugendszenen. com (Internet-Portal)
Dr. Ronald Hitzler (Bild links, Ausschnitt einer Fotografie von Alexander Stiebritz) ist Universitätsprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie an den Fakultäten „Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie“ und „Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ der Technischen Universität Dortmund. Weitere Informationen unter www.hitzler-soziologie.de.
Dr. Arne Niederbacher (Jg. 1970) ist akademischer Oberrat am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dortmund, wo er seit 2000 forscht und lehrt. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Teilkulturen der Gegenwartsgesellschaft und Nicht-standardisierte Methoden der empirischen Sozialforschung.
Homepage: http://teilkulturen.fk12.tu-dortmund.de.