Kultivierte Unschärfe[n]
von Detlev Nothnagel
Ausgehend von einer symmetrischen Anthropologie, die das Fremde nicht nur in der Fremde vermutet und Techniken wie der Feldforschung oder Begriffen wie dem der Kultur ihren Platz auch in der Erforschung von Organisationen einräumt, erscheint es besonders reizvoll, Umfelder in den empirischen Blick zu nehmen, die zu den avancierten und emblematischen in modernen, technologisch geprägten Gesellschaften zählen.
Eine Organisation, die ein hervorragendes Umfeld bietet, um ein derartiges Interesse zu konkretisieren, ist das CERN. Als internationale Organisation in den Nachkriegsjahren gegründet verschreibt sie sich der großtechnisch angelegten Suche nach den fundamentalen Strukturen der Materie. Die Entdeckung des Top oder des Higgs sind die prominentesten Beispiele für den wissenschaftlichen Erfolg der Arbeit am CERN. Er ruht seinerseits auf Technologien auf, die dort entworfen oder wesentlich vorangetrieben worden sind und in der Folge allgemeine Bedeutung gewonnen haben. Zu nennen ist die moderne Browsertechnologie, die verteilte Datenverarbeitung und das Handling größter Datenmengen oder materialwissenschaftliche Entwicklungen.
Gleichzeitig ist das CERN eine multikulturelle Organisation, die gegenwärtig Personen aus mehr als 113 Nationen umfasst.
Wie sich Forschung in der Hochenergiephysik vor dem Hintergrund von verschiedenen Kulturen und potentiellen Geschlechtsunterschieden in einer alltagsweltlichen Weise vollzieht, ist auch deshalb interessant, weil neben generellen interkulturelle Aspekte im Kontrast zu anderen in den Blick genommen werden können. Dabei steht zwangsläufig die orale Kommunikation im Vordergrund, die dem vorausgeht, was offiziell zirkuliert, und von einer Vielzahl ausdruckskräftiger, exklusiver Metaphern geprägt wird – so etwa ‚handwaving arguments’. In allgemeiner Konsequenz ergibt sich zusätzlich ein solider Hinweis darauf, ob die kulturellen Unterschiede die geschlechtsgebundenen überwiegen oder umgekehrt. Im Ergebnis verweist die soziolinguistisch, z.T. statistisch orientierte Untersuchung darauf, dass im gegebenen Ausschnitt, der britische, deutsche, französische, italienische und US-amerikanische Sprecher/innen umfasst, geschlechtsgebundene Unterschiede keineswegs kleiner als die kulturellen sind.
Weiteres kommt hinzu. Denn das Verhältnis der Kulturen und Geschlechter zu verschiedenen Äußerungsregistern – unterschieden wurden administrativ-politische von unmittelbar fachlichen sowie diskussions- von vortragsbestimmten – ist jeweils ein spezifisches.
In der Konsequenz lassen sich nicht nur die Kommunikationsprofile weiter detaillieren sondern es tut sich auch ein Feld komplexer potentieller Unschärfen auf.
Das, was als ‚physics way’ entworfen wird, weicht also auf der Ebene der informellen Kommunikation einer durchaus vielgestaltigen Aktivität, die Unschärfen einer komplexen Übersetzungspraxis mit sich bringt. Dies lässt sich auch in anderer Hinsicht feststellen. Etwa, wenn es darum geht, in einer frühen Phase der Empirie, Daten und, damit verbunden, das Verhalten der experimentellen Apparatur zu versehen. Hier kommen metaphorische Konzepte ins Spiel, die deutliche Gemeinsamkeiten mit Ausschnitten der Kunst – etwa Magritte – aufweisen und häufig idiosynkratischer Ausdruck einer spezifischen Entdeckungspraxis sind, der in schriftlicher Kommunikation kaum präsent ist.
Auf genereller Ebene sind hier also Denk- und Kommunikationsweisen angesprochen, die die unmittelbar propositionale Ebene überschreiten und an ästhetische Qualitäten anschließen, die auch Physiker auf genereller Ebene vielfach ihren Überlegungen zumessen.
Diese Vielfalt von mündlichen Ausdrucks- und Inszenierungspraxen und Denkformen bringt weitere Perspektiven auf naturwissenschaftliche Forschung in den Blick, die ebenfalls die Unschärfe als konstituierende Variable wissenschaftlichen Fortschritts hervorheben – vor allem Galison und Serres, aber auch Callon, Latour und Rheinberger.
Prof. Dr. Detlev Nothnagel ist promovierter Kulturanthropologe, habilitatiierte in Kommunikationswissenschaften und forschte intensiv zu Organisationen, Designprozessen und Kreativität sowie zur alltagsweltlichen Kognition und interkulturellen Kommunikation. Unter anderen hatte er eine Professur an der Kunsthochschule für Medien und der Universität Wuppertal. Derzeit wirkt er auch als Trainer und Consultant.