von Elisabeth Göhring
1984 ist Schnee von gestern.
Mae Holland ist 24 Jahre alt und hat seit ihrem College-Abschluss bereits ein Jahr Berufseinsteigerschock hinter sich.
Das ganze Programm mit Grusel-Büro und sich aufspielendem Chef.
Dann schafft sie es in eine der top, nein, die top Computerfirma, den „Circle“, den SocialMedia Nabel der Welt!
Die Mitarbeiter sind alle jung und wollen sich beweisen, dankbar, nicht mehr in verstaubten Büros klein gehalten zu werden und statt dessen für ein gutes Gehalt mit netten Leuten etwas leisten zu dürfen. Und sie sind unbegrenzt leistungsbereit! Sie wollen die Welt verbessern mit ihrer enormen Kreativität, Kraft und intelligenter Power!
Circle bietet seinen Mitarbeitern viele Vergünstigungen. Als Maes MS-kranker Vater Probleme mit der Krankenkasse bekommt, wird er in die Firmen-Versorgung aufgenommen. Außerdem werden die Mitarbeiter mit den neusten Top-Produkten kostenlos versorgt. Sie dürfen sich einfach im Firmenshop bedienen. Präziser formuliert: sie sollten sich im Firmenshop bedienen und dann in den sozialen Medien über die Produkte schreiben. – Alles natürlich freiwillig aber beobachtet und öffentlich gemessen.
Das exakte Ausmaß der Teilhabe an allgemeinen und SocialMedia-Aktivitäten ist Gegenstand ernster Personalgespräche.
Bald gibt es für Mae keinen Grund mehr, das großartige Circle-Betriebsgelände zu verlassen, denn man bekommt dort schlichtweg alles. Nach den Partys, Nachtsitzungen, Besuchen in verschiedenen Interessengruppen, die natürlich alle freiwillig sind, sich aber im Teilhabe-Ranking niederschlagen, kann man auch auf dem Areal angemessen übernachten. Und was wartet schon jenseits des Zaunes? Eine leere Wohnung, gefährlich Straßen, eine nicht perfekte Welt mit all denen, die es nicht geschafft haben.
Die SocialMedia-Aktivitäten eines Mitarbeiters wirken sich auf den kommerziellen Wert, die seine Empfehlungen erreichen können, aus. Dabei geht es um viel Geld. Mae Hollands Empfehlungen kommen gut an. Sie ist beliebt, weil sie sympathisch und engagiert ist.
Mae ist stolz darauf, dass sie für ihre Firma so viel erwirtschaftet und spürt die Macht, die der Circle ihr verleiht.
Bis hierhin orientiert sich das Buch noch sehr an der SiliconValley-Realität:
Die Zahlen für Umsatz pro Mitarbeiter lassen sich zum Beispiel bei Google und Co durchaus sehen. Apple kann zum Beispiel aus jedem Mitarbeiter mehr als 400.000, Dollar pro Jahr rausholen. Nicht schlecht?
Im Sommer 2013 waren im Durchschnitt das Alter bei Google 29 und die Verweildauer im Konzern trotz „Rundumsorglospaket“ nur etwas mehr als ein Jahr.
Die kurze aber intensive Verweildauer scheint sich deutlich positiv auf den Gewinn pro Mitarbeiter auszuwirken. Die google-Mitarbeiter schaffen noch erheblich mehr als die von Apple.
Jüngere Mitarbeiter leiden auch seltener an schweren Krankheiten, benötigen nicht so viel Zeit für ihre Familie und sind nach sechs Doppel-Schichten immer noch gute Laune. – Ganz im Gegensatz zu einem Mitarbeiter in den mittleren Jahren.
Der Autor Dave Eggers entwirft vor diesem Hintergrund allerdings ein zunehmend beängstigendes Szenario: aus seiner fiktiven Firma geht man nicht so einfach. Man wird mit Haut und Haaren vereinnahmt. Transparenz und Leistungsdenken erstrecken sich bald auf alle Bereiche des Lebens. Keine Party ohne Fotos. Kein Sex ohne Noten.
Die Mitarbeiter des Circles sind tatsächlich „gebrandet“.
Eggers führt einen in ein beklemmendes Orwell-Scenario, in dem es keine Privatsphäre mehr gibt, nur noch gegenseitige Überwachung. Um 100%ige Perfektion und Sicherheit zu erreichen, soll alles Unbekannte und Dunkle abgeschafft werden. Alle Daten werden erfasst, gesammelt, ausgewertet. Nichts wird gelöscht.
Die Circle-Mitarbeiter streben nach Perfektion. Sie durchleuchten alles und jeden und zuallererst sich selbst. Es scheint möglich zu sein, 100% in jeder Bewertungsskala zu erreichen. Man muss sich nur bemühen.
Mae Holland fühlt sich gut mit ihren überdurchschnittlichen Werten: Bewertung durch die Kunden, Teilhabe-Rang, Puls und BMI, Umsatz-Rate… Sie ist ein Vorbild für die Menschen innerhalb und außerhalb von Circle.
Wer aber bei diesem Wettlauf versagt, wird ausgesondert und fertig gemacht. Durch die zentralisierte Hoheit über alle Daten kann Circle seine Ziele überall durchsetzen. Er wird immer mächtiger, was aber offensichtlich zum Vorteil aller zu sein scheint: die Verbrechensrate sinkt drastisch unter den alles sehenden Augen der Circle-Nutzer, ermöglicht durch Pflaumen-große, extrem leistungsfähige und Wetter-resistente Kameras, die für jeden erschwinglich sind und überall unbemerkt angebracht werden können.
Korruption wird unmöglich, denn die Politiker lassen sich Tag und Nacht öffentlich beobachten.
Wer nicht mitmacht, macht sich verdächtig.
Wer opponiert wird denunziert und ausgeschaltet.
Alles, was man von sich gibt, kann irgendwann einmal gegen einen verwendet werden.
Die totale Demokratie wird zur totalen Tyrannei, und Mae Holland ist deren willige Protagonistin: intelligent aber nicht tiefsinnig, offen aber nicht ehrlich, Objekt und kein Subjekt mehr. Sie ist das Verbindungsglied zwischen der Firma und ihren Kunden: dem inneren und dem äußeren Kreis, der sich bald um alle schließen wird, was existieren will.
Die ganze Welt sollte sauber und hell sein, findet die 24-jährige. In einer perfekten Welt gibt es nichts mehr zu verbergen. Eine Welt, in der nichts mehr verborgen werden kann, wird perfekt werden.
Wozu braucht man die Dunkelheit, das Verbrechen und den Schmutz?
Wozu die selbstherrlichen Chefs und verstaubten Büros?
Dave Eggers stellt die radikale Frage nach Wert und Preis des Privaten, Riskanten und nicht Perfekten.
Das 491 Seiten starke Buch „The Circle“ hat durchaus seine Längen.
Spaß machen die Dialoge nur zu Beginn, denn dann kennt man die Masche. Die einzigen witzigen Gestalten, die unflätige Annie und der geheimnisvolle Kalden, haben leider nur kurze Gastauftritte. Dafür bietet das Buch aber tiefgreifende Bilder, die mit enormer fiktionaler Kraft und Fertigkeit gezeichnet sind.
Eggers deckt die systematische Vereinnahmung der Employer-Brander und die Gefahren von unreflektierten Innovationen, Sicherheitswahn und Bequemlichkeit auf. Das Buch beleuchtet die Kraft von Unternehmenskultur und ist alleine deshalb äußerst empfehlenswert.
Die fünf hochwertigen Literatur-Preise, die es gewann, und die drei Nominierungen, zum Beispiel für den Pulitzer Price, sowie das exorbitante Loblied der relevanten Presse sagen aus, dass man Leute finden wird, mit denen man einen Abend lang darüber diskutieren kann.