von Elisabeth Göhring
Manchmal funktioniert das Berufsleben wie ein Malefizspiel: Man taktiert mit einander so lange, bis man merkt, dass der Sieg nun nicht mehr teilbar ist. Dann wird die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und der Partner rausgeschmissen. Wenn möglich. Auch wenn man sich persönlich doch ganz gerne hat. Zu dem 100sten Jubiläum der Röntgendiffraction wurde genau so eine Geschichte wieder aufgetischt, und ich werde mich im Folgenden bemühen, das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit „dem Fall“ in einfachen Worten und vor allem kurz und klar darzustellen:
Es geht hauptsächlich um zwei Akteure, das Spielfeld ist die Physik, und dem Sieger winkt der Nobelpreis.
Man schreibt in München das Jahr 1912.
Der eine Hauptakteur ist Arnold Sommerfeld (1868-1951).
„Einstein war das Genie, Planck die Autorität und Sommerfeld der Lehrer“, sagt ein A. Hermann über das Dreigestirn des deutschen Physik-Himmels.
Sommerfeld erweiterte den fachlichen Austausch um das Format der „Mittwochskolloquien“, bei denen er normalerweise selbst nicht anwesend war, aber immer eine Kiste Zigarren spendierte. Eine viel gelobte Institution, bei der es zu wichtigem fachlichen und informellem Austausch kam.
Heisenberg bezeichnete die „Sommerfeldschule“ sogar als „ein Erziehungsheim für Physikalische Babys“*, einer Gruppe, der er auch einmal gerne angehörte.
Sommerfelds Babyschule entsprangen unter anderem: Hans Bethe, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Linus Pauling, Peter Debye, Isaac Rabi, Max von Laue. Eine respektable Liste!
Der andere Hauptakteur ist Max von Laue (1879-1960), derzeit nur Privatdozent an Sommerfelds Münchener Institut für theoretische Physik, späterer Nobelpreisträger und Namensgeber wissenschaftlicher Institute.
Und das ist der Spielstand: weltweit wird fieberhaft nach einer Theorie für jüngst entdeckten Röntgenstrahlen gesucht. Fachübergreifende Forschung war unvermeidlich
geworden: Auf der atomaren Ebene trafen sich Chemie und Physik.
Sommerfeld hat gegenüber der Uni-Direktion durchgesetzt, die theoretische Physik experimentell zu erweitern: ihm wurde gerade eine weitere Assistenten-Stelle und ein Raum für Experimente zugebilligt. Sommerfeld jagt Röntgen, der es nach kurzem Schmollen sportlich nimmt, den frischgebackenen Doktor und genialen Experimentator Friedrich ab.
Die ersten Experimente im neuen Labor sind leider nicht erfolgreich.
Das Thema der Interferenzmuster bei Durchstrahlung von Materialien ist in Fachkreisen viel diskutiert. Versuche mit Kristallen waren durchgeführt worden und erfolglos geblieben. Es gibt jede Menge zu tun!
Laue ist auch am Thema. Er brennt darauf, Experimente mit Kristallen zu machen, die er einer „fluoreszierenden“ Strahlung aussetzen will, um Interferenzmuster zu erhalten.
Nun, das klingt zunächst einmal nicht so überzeugend. Warum die diffusen Strahlen nutzen, wenn es doch mit gebündelten, polarisierbaren eigentlich viele besser gehen
müsste.
Sommerfeld ist nicht überzeugt von Laues Idee, und Sommerfeld ist der Chef.
Laue sieht sich jetzt an dem Punkt, an dem er taktiert. Er jagt seinerseits den frisch gebackenen Doktor seinem Chef heimlich ab und experimentierte mit Friedrich und Knipping, was sein Chef nicht vorgesehen hatte. Mit Erfolg.
Jeder weiß: durch Erfolg ändert sich alles.
Hätte es nicht geklappt, hätte es wahrscheinlich kein Zerwürfnis zwischen Sommerfeld und Laue gegeben. Sommerfeld feiert Laues Entdeckung aber trotzig mit seinen beiden Assistenten, Laues heimlichen Helfern – und ohne Laue. Darüber ist Laue zutiefst verletzt. Noch 1920, 8 Jahre nach dem Vorfall schreibt er an Sommerfeld: »Warum haben Sie mich ausgeschlossen, als Sie mit Friedrich und Knipping und anderen jüngeren Fachgenossen die Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenzen feierten?«
Sommerfeld ist auch zutiefst verletzt: er meidet Laue, wenn möglich. Sein Ärger hindert ihn aber nicht daran, ihn für einen Lehrstuhl zu empfehlen. Arnold Sommerfeld gelingt es, Fachliches von Persönlichem zu trennen.
Acht Jahre nach der Entdeckung Laues, die es ermöglichte, Kristallstrukturen mittels Interferenzmuster zu entschlüsseln und nach der verzögerten Entgegennahme des Nobelpreises nach dem ersten Weltkrieg versöhnen sich der ehemalige Chef und sein ehemaliger Substitut.
Der Erfolg wäre teilbar gewesen.
Aber es ist gelaufen wie beim Malefiz.
Schade eigentlich.
Prof. Helmut Dosch, der bei einem Vortrag die Geschichte der Röntgendiffraction aufrollte, sagte: „Ein glücklicher Zufall (zum Beispiel ein gelungenes Experiment mit überraschendem Ausgang) muss auf einen vorbereiteten Geist treffen, damit daraus eine geniale Entdeckung werden kann.“
Ich wage es nun, Professor Doschs Ausspruch zu übertragen: eine erfolgreiche Unternehmung braucht eine Kultur, die den Erfolg ermöglicht. Diese Kultur war im Falle der Entdeckung der Röntgendiffraktion durch Laue von Sommerfeld geschaffen worden.
Peter Debye, ehemaliger Assistent von Sommerfeld, beschreibt es in einem Brief so:
“Die Laue’sche Entdeckung ist sehr schön und ich freue mich sehr so nebenbei, dass unsre Urteile über ihn durch dieselbe nun einen glänzenden äußeren Anstrich aufweisen können. Zwar soll man bei solchen Sachen im allgemeinen Verdienst und Zufall nicht gegeneinander abwägen, aber eines muss ich sagen. Hättest Du dich nicht schon lange für Röntgenstrahlen interessiert, hättest Du nicht die Mittel Deines Instituts in liberalster Weise zur Verfügung gestellt und nicht jedem immer freien Einblick in Deine Gedanken gewährt, es wäre Laue nicht eingefallen und er hätte vor allem nicht die praktisch geschulten Mitarbeiter gefunden, welche unerlässlich zum Gelingen waren. So kommt es, daß ich das Gefühl habe, Dich zuerst zu diesem Erfolg gratulieren zu sollen.”**
Sommerfeld hatte Institutionen für freien, regelmäßigen Austausch geschaffen. Und so konnte sich aus einer zwanglosen Plauderei mit dem Kollegen Ewald die zündende Idee für Laues Experiment ergeben***.
Das entdeckte das Laue-Team.
Daraus ein Kristallgitter zu bestimmen, ist keine Kleinigkeit.
In einer anderen, von Misstrauen und Ehrgeiz geprägten Umgebung hätte Ewald vielleicht nicht das fehlende Puzzelstück zur Verfügung gestellt.
Das Labor, in dem erfolgreich experimentiert wurde, war auf Initiative Sommerfelds eingerichtet worden. – Es war nämlich keine Selbstverständlichkeit, dass ein Institut für theoretische Physik einen Experimentier-Raum unterhielt. Und natürlich hatte Sommerfeld die beiden Assistenten rekrutiert, ohne die Laues Experiment wahrscheinlich nicht gelungen wäre.
Keine Frage: Sommerfeld schuf die Umstände, innerhalb derer Laue seine Idee entwickeln und nobelpreiswürdig umsetzen konnte.
Sommerfeld ermöglichte den Erfolg.
Das Problem entstand durch die Rolle des Chefs, in der Sommerfeld – nicht überzeugt von Laues Idee – dem Experiment keinen Raum einräumte. Laue dagegen hatte den freien Geist verinnerlicht: ihm ging es um die Sache. Er wollte es wissen. Dabei überschritt er die niedrige hierarchische Schwelle und verletzte damit ein
Tabu.
Jeder Chef, der „seinen Leuten“ „alle möglichen Freiheiten“ und „volles Vertrauen“ „schenkt“, tut dies von „oben nach unten“. Er könnte auch anders.
Vertrauen geschenkt oder verschenkt funktioniert nur auf Gegenseitigkeit. Nahm die offene Kultur an Sommerfelds Institut durch „den Fall Laue“ Schaden?
Abgegebene Macht kann nicht mehr beansprucht werden. – Sie muss zurück erkämpft werden.
Wer aber einmal das Fenster aufgemacht hat, um frischen Wind herein zu lassen und alte Machtstrukturen für alle gewinnbringend aufzuweichen, wird es nicht ohne Gegenwind wieder schließen können.
Laue handelte im Sinne Sommerfelds: Als freier Denker im Dienste des Fortschritts der Wissenschaften.
Oder muss man es eher so sehen: Im letzten Moment warf Laue seinen Wegbereiter raus und gewann das Malefiz-Spiel für sich selbst?
Über all das sollte man nachdenken und diskutieren, denn solche „Geschichten“ gehören nicht nur der Vergangenheit an: das große Malefiz-Spiel läuft noch!
ANHANG:
*Zitat nach Eckert – (Acta Crystallographica Section A/Foundations of Christallography / ISSN 0108-7673/Summer 2011)
Vielen Dank an Michael Eckert für die Zusendung des Artikels!
** Peter Debye an Arnold Sommerfeld, 13. Mai 1912. München, Archiv des Deutschen Museums, Signatur: HS
1977, Transkription derzeit nicht im Online-Archiv. Vielen Dank noch einmal an Michael Eckert.
***(http://www.iucr.org/__data/assets/pdf_file/0010/721/chap4.pdf) Festschrift von Ewald 1962 zu „50 Years Of
X-Ray Diffraction“
(Hier kann man auch schöne Photos der Ergebnisse und der Apparatur finden!)
Vielen Dank an Frank Lehner und Prof. Helmut Dosch vom DESY, die mir Unterlagen und weiterführende Informationen zur Verfügung stellten.
Bei weitergehendem Interesse kann ich das Archiv der Deutschen Museum (http://www.deutschesmuseum.de/de/archiv/) empfehlen.
Einblicke in die Diffraktion bietet wie immer Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6ntgendiffraktion